Unsere Wünsche und Gedanken

03.10.2022

Liebe Menschen da draußen, 

ein Hallo an alle langjährigen Festivalbegleiter*innen und alle neu Hinzugekommenen. Zunächst einmal ein herzliches Danke! Danke, dass ihr da wart! Ohne Gäst*innen wäre das Septré Festival kein Festival, sondern ein wunderschön dekorierter, aber viel zu leerer Platz, inspirierende Musik und spannende Vorträge ohne Zuhörende. Nach der coronabedingten Pause sind wir einfach nur glücklich und dankbar, dass wir dieses Festival endlich realisieren konnten! Das Septré 2022 war ein voller Erfolg! Gerade deshalb ist es an der Zeit, ernstere Themen anzusprechen und über unsere Gedanken, Beweggründe und Sorgen zu sprechen. Wir möchten die Möglichkeit nutzen, uns zu erklären und euch die Möglichkeit geben, unsere Perspektive einzunehmen.

Zu unserem großen Bedauern mussten wir uns von einigen Gäst*innen während des Festivals verabschieden. Diese Platzverweise sind uns wahrhaftig nicht leicht gefallen, wir haben lange darüber diskutiert und nachgedacht, aber wir hielten sie am Ende für notwendig. Folgendes haben wir beobachtet: Zwischenrufe und Missachtung der Gesprächsregeln beim Vortrag von Andreas Speit, unangemessenes Verhalten auf dem Zeltplatz und verharmlosende Äußerungen über den Holocaust, die wir nicht diskutieren möchten. Für uns entstand der Eindruck einer gezielten Störung der Veranstaltung. Wir sind durchaus offen für kritische Fragen und kontroverse Diskussionen, solange sie respektvoll bleiben, an einem Austausch interessiert sind und sich im Rahmen unseres Code of Conduct bewegen. Unser Festival vereint unterschiedliche politische Haltungen, Meinungen und Wertvorstellungen, in der Orga und unter den Teilnehmenden und das ist auch gut so! Mit dem Septré möchten wir aber auch zeigen, welche Werte uns gemeinsam wichtig sind und für diese einstehen. Dafür möchten wir ein bisschen weiter ausholen:

Vor zehn Jahren begannen die ersten Planungen für das Schulfrei-Festival. Seitdem ist unglaublich viel passiert: Menschen haben die Orga verlassen und neue sind hinzugekommen. Wir sind zweimal umgezogen, haben immer wieder neue Ideen realisiert, sind in der Größe gewachsen, haben eine Pandemie überstanden und uns Anfang dieses Jahres in Septré – Festival der Bildungsvielfalt umbenannt. Mit dabei war immer der Wunsch, Menschen mit ganz unterschiedlichen Bildungswegen – schulischen wie außerschulischen – einen Safe Space zu bieten, den wir andernorts vermissen. Aber das Festival war und ist noch so viel mehr: wir sind eine Kulturveranstaltung mit Konzerten, großen und kleinen Künstler*innen und bunten Workshops, die sich inzwischen zum Teil aus öffentlichen Fördergeldern finanziert. Nach wie vor ist das Septré jedoch eine nichtkommerzielle Veranstaltung, die wir im Ehrenamt in unserer Freizeit organisieren. Wir sind stolz auf das, was wir mit diesem Festival erreicht haben! 

Das Septré ist ein Erfahrungsraum, in dem wir neue Dinge ausprobieren und kreativ umsetzen möchten. Damit verbunden  waren und sind immer  viele Gedanken und Diskussionen um das, was wir inhaltlich auf dem Festival anbieten. Einerseits möchten wir Fragen diskutieren und Themen behandeln, die wir auch selbst spannend finden: wissenschaftliche und politische Perspektiven auf Bildung, Orientierung für Studium oder Ausbildung, Klimaschutz und Verkehrswende, die Weltumsegelung von Laura Dekker und vieles mehr. Auf der anderen Seite tragen wir als Orga Verantwortung für unsere Veranstaltung und deren Inhalte . Ein Teil unserer Ideen und Gedanken wird auf dem Festival als Programm sichtbar. Unsichtbar bleibt meist, was nicht Teil eines Festivals geworden ist: Fleisch an den Essensständen, Alkoholverkauf an der Bar, eine Band, deren Musikrichtung eher für eine andere Veranstaltung geeignet erschien, ein Performance Act, der nicht in unser Budget gepasst hat, ein Essensstand, der keine Zeit hatte oder ein Vortrag, der uns nicht spannend genug erschien, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir treffen immer eine Auswahl, laden Programmpunkte aktiv ein und schließen andere aus, in dem Wunsch, euch eine schöne, vielfältige, bereichernde und verantwortungsbewusste Veranstaltung zu bieten. Mit dem Festival sind wir keine Privatpersonen, wir müssen hinter dem stehen, was auf unserer Veranstaltung stattfindet, weil wir mit unserem Namen in der Öffentlichkeit dafür einstehen.

Diese Gedanken und Auswahlentscheidungen begleiten uns von Beginn an, wenngleich sich unsere Herangehensweise in beständigem Wandel befindet. Auch die sehr vielfältige „Schulfrei-Szene“ und unsere gesamte Gesellschaft befinden sich im Wandel. Inzwischen halten wir es für wichtig, transparent zu benennen, was wir uns auf dem Festival wünschen und was nicht, Themen anzusprechen, die mitunter als kontrovers wahrgenommen werden könnten und auf Missstände hinzuweisen, die wir beobachten. Dabei erleben wir Zuspruch, aber immer wieder auch Kritik, Unverständnis und Irritationen, zum Beispiel durch unseren Code of Conduct, unsere Programmauswahl oder andere Entscheidungen, die wir mit dem Festival treffen. Das macht uns zuweilen traurig und nachdenklich. Wenn ihr euch angegriffen oder unverstanden fühlt, möchten wir um Verständnis bitten und gleichzeitig einladen, unsere Perspektive ein Stück weit zu verstehen. 

 

Wir wurden von Einigen mit dem Vorwurf der Spaltung konfrontiert und möchten zwei Dinge darauf erwidern: Zum einen impliziert der Vorwurf eine homogene „Schulfrei-Szene“. Diese Einheitlichkeit hat es nie gegeben. Zum anderen überschätzt der Vorwurf der Spaltung unseren Einfluss; wir können als einzelne Veranstaltung keine Spaltung verursachen, die nicht schon vorher angelegt war. Vielmehr machen wir auf Unterschiede aufmerksam, die wir sehen und die schon vorher bestanden haben. Der Soziologe Thomas Spiegler hat in seiner Dissertation 2008 herausgearbeitet, dass die heutige deutsche Home Education Bewegung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus zwei gegensätzlichen Lagern entstanden ist: Im Zuge von Bildungsreformen und einer Liberalisierung der Schule gab es eine tendenziell kinderrechtlich-alternative Strömung, der die Schule noch nicht frei genug war und eine eher christlich-konservativ geprägte, der die Schule zu frei wurde. Beide sahen in häuslicher Bildung eine Alternative, ähnelten sich in gewissen Punkten, waren aber auch sehr verschieden (Spiegler 2008: S. 145–147). Auch heute sind Menschen, die sich für schulfreie Bildungswege interessieren oder entscheiden, keine homogene Bewegung und oft sehr unterschiedlich. Ein wichtiges Ziel, das wir mit diesem Festival verfolgen, ist, eine differenzierte Sichtweise auf die Alternativ-Bildungs-Szene zu etablieren. Dieser Szene und allgemein dem alternativen Milieu fühlen wir uns selbst zugehörig. Wir möchten zeigen, dass schulfreie Bildung nicht automatisch besser oder schlechter ist als schulische, dass „Freilernen“ meist bedeutet, dass zumindest zeitweilig eine Schule besucht wird und dass es auch in diesen Familien Probleme und Kindeswohlgefährdung geben kann. Wir können und wollen als Festival nicht für alle sprechen, sondern repräsentieren immer nur einen Teil eines sehr heterogenen Ganzen und vor allem uns selbst. 

Selbstverständlich war für die meisten von uns aber auch eine klare Abgrenzung gegenüber rechten Strömungen und das von Beginn an. In ganz Europa beobachten wir ein Erstarken rechter Parteien und Bewegungen und gleichzeitig immer wieder eine fehlende Sensibilität für diese Entwicklung und eine (aus unserer Sicht) gefährliche Toleranz. Wir verstehen uns als Teil dieser Gesellschaft, mit ihrer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und möchten unseren Teil zu einer weltoffenen Gesellschaft beitragen. Unsere Demokratie, ein Leben in Frieden, unsere Freiheitsrechte und der Schutz von Minderheiten vor Diskriminierung sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern müssen verinnerlicht, aktiv gelebt, erhalten und weiter eingefordert werden. Als Teil der deutschen Gesellschaft und Nachfahr*innen des nationalsozialistischen Regimes möchten wir verantwortungsvoll mit dieser grausamen Vergangenheit umgehen. Wir halten es für sehr wichtig, sich daran zu erinnern und die Gegenwart mit diesem Wissen im Hinterkopf zu betrachten. Wir beobachten Versuche, die Grenze des Sagbaren zu verschieben und den Nationalsozialismus zu verharmlosen. Dies halten wir für sehr gefährlich. 

In verschiedenen alternativen Milieus, auch in dem der alternativen und schulfreien Bildung, erkennen wir Überschneidungen mit rechten Bewegungen, einzelnen rechten Ideen oder Theorien und teilweise auch bewusste Unterwanderungsversuche. Geschichtlich betrachtet ist dies keine neue Erscheinung, und hat es zum Beispiel bereits während der Lebensreformbewegung in der Weimarer Republik gegeben. Diese Überschneidungen sind für uns inzwischen eine selbstverständliche Realität, die es wachsam zu beobachten gilt. 

Bildungsvielfalt darf aus unserer Sicht nicht gleichbedeutend mit Bildungswillkür sein. Es ist nicht egal, ob es Kindern in Familien gut geht, es ist nicht egal, welche Bildungsinhalte vermittelt werden, es ist nicht egal, ob auf die Rechte und Bedürfnisse junger Menschen geachtet wird, und auch die politische Einstellung und die Motivation hinter dem Bildungsweg sind uns nicht völlig egal. Wir können und wollen als Festival nicht unpolitisch sein! Wir verstehen uns als alternatives, tendenziell linkes und progressives Festival und setzen uns für die Themen ein, die wir wichtig finden. Wir möchten eine Diskussion über selbstbestimmte Bildung anstoßen, können dabei aber oft keine Antwort geben. Zum Beispiel, ob eine Lockerung der Schulpflicht – individuell wie gesellschaftlich – mehr nutzen als schaden würde oder wie eine konkrete Änderung aussehen könnte. Auf manche Fragen haben wir keine Antwort und können nur sagen: es ist kompliziert. 

Mit dem Vortrag von Andreas Speit zu gefährlichen Weltbildern in alternativen Milieus, dem Infostand vom Aktionsbündnis Bündnis Brandenburg, einem Vortrag zur „Anastasia-Bewegung“ und einem Workshop zur „politischen Natur“ wollten wir auf Problematiken, die wir selbst beobachten, aufmerksam machen, sensibilisieren und zum Nachdenken anregen. Wenn ihr euch unsicher seid, was die Interpretation unseres Code of Conducts anbelangt, könnt ihr uns (ernst gemeinte) Fragen dazu per E-Mail an kontakt@septre.de stellen oder unser Awareness-Team auf dem nächsten Festival darauf ansprechen. Das Awareness-Team soll eine Anlaufstelle für euch als Teilnehmende sein, für eure Sorgen und Ängste. Für uns ist das Awareness-Team eine wichtige Unterstützung und Beratung vor Ort. Wir hoffen, dass wir mit dem Septré unserer Verantwortung gerecht werden, zum Nachdenken anregen und die ein oder andere positive Veränderung anstupsen können. 

 

Wir freuen uns auf jeden Menschen, der sich für unsere Themen und Diskussionen interessiert, schauen möchte, wohin dieses Festival sich entwickelt und uns im nächsten Jahr wieder beehren möchte. Wir sind selbst gespannt, wohin unsere Reise uns führt!

Bis dahin, einen wundervollen Herbst!

 

Zum Weiterlesen: 

Kittstein, Lothar (2016): Widersprüchliche Freiheit: Überlegungen zur politischen Dynamik der Freilernerszene, in: Die Freilerner.  https://freilerner.de/widerspruechliche-freiheit/ 

Speit, Andreas (2021): Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus. Berlin: Aufbau Verlag.

Spiegler, Thomas (2008): Home Education in Deutschland. Hintergründe, Praxis, Entwicklung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Weißgerber, Stefanie (2019): Schutz vor Isolation und Indoktrination – warum dieses Thema so überaus wichtig ist!, in: Die Freilerner. 

https://freilerner.de/schutz-vor-isolation-und-indoktrination-warum-dieses-thema-so-ueberaus-wichtig-ist/ 

Ludwig-Wolf, Christiane (2019): Freilernen und Schutz vor Isolation und Indoktrination – ein unzulässiges Schwerpunktthema, in: Die Freilerner.

https://freilerner.de/freilernen-und-schutz-vor-isolation-und-indoktrination-ein-unzulaessiges-schwerpunktthema/ 

Erklärung zum Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung (2020): https://erklaerung-selbstbestimmte-bildung.de 

• 2020: "Nicht jede Schulkritik stellt die Bedürfnisse junger Menschen in den Vordergrund" Dorothée Krämer unterhielt sich mit Immanuel Zirkler über verschwörungsideologisch motivierte Schulkritik und wie die Freilern-Szene damit umgeht. (Beitrag in der Oya) https://lesen.oya-online.de/texte/3501-nicht-jede-schulkritik-stellt-die-beduerfnisse-junger-menschen-in-den-vordergrund.html 

Septré – Festival der Bildungsvielfalt | 07. - 10. September in Damelack