Die Erklärung für das Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung

15.08.2023

Eine Entscheidung und ein Raum für Ambivalenz

Liebe Festival-Freund*innen, 

das Wichtigste vorweg: Wir haben die Erklärung für das Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung unterzeichnet! Warum wir damit so lange gewartet und uns schließlich dazu entschieden haben? Warum wir manchmal unsicher sind und das in Ordnung ist? Darum soll es in diesem Artikel gehen. 

Die Erklärung wurde 2018 von den Aktivist*innen Lothar Kittstein, Stefanie Weisgerber und Immanuel Zirkler ins Leben gerufen und schließlich 2020 veröffentlicht. Seitdem kann sie von Organisationen und Einzelpersonen unterzeichnet werden und möchte einen Anstoß für Verantwortliche in „Schule, Jugendhilfe, Politik, Justiz, Verwaltung und Wissenschaft“ sein, über selbstbestimmte Bildung nachzudenken sowie mögliche Veränderungen anzustoßen. Die Erklärung postuliert: 

„Jeder junge Mensch hat das Recht auf Bildung. Bildung ist ein individueller, aktiver Prozess des Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung. Dies lässt sich nicht verordnen und erzwingen. Die Schulpflicht verkehrt das Recht auf Bildung in sein Gegenteil, in einen kollektiven Zwang. Sie missachtet die Selbstbestimmungsrechte der jungen Menschen und ist einer freiheitlichen Demokratie unwürdig.“ 

Dabei bekennen sich die Initiator*innen zur freiheitlich demokratischen Grundordnung und stellen klar, dass sie selbstbestimmte Bildung nicht als Elternrecht, sondern als das Selbstbestimmungsrecht der jungen Menschen selbst betrachten. Sie distanzieren sich außerdem 

„von der Ideologie der Staatsleugner (sogenannte „Reichsbürger“), von nationalistisch oder völkisch geprägter Esoterik und von Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus sowie religiösem Fundamentalismus in jeglicher Form.“ 

Als wir 2019 nach der Unterzeichnung der Erklärung gefragt wurden, konnten wir vor allem dem letzten Punkt vollkommen zustimmen. Schließlich begleitet uns unser Selbstverständnis als tendenziell linkes und progressives Festival schon lange (mehr dazu hier). Aber oft ist es einfacher sich gegen als für etwas auszusprechen. Unser Team bestand auch damals schon teilweise aus Menschen, die ganz klassisch und sogar gerne zur Schule gegangen sind oder deren Erfahrung mit schulfreier Bildung eher negativ waren. Außerdem rückte für viele das schulpflichtige Alter in die Ferne und eigene Kinder waren (noch) nicht auf der Welt. Wir wollten aber auch eure Wünsche als Festival-Teilnehmende umsetzen und diesen Begegnungsort für schulfrei Lebende aufrechterhalten. Diesen unterschiedlichen Perspektiven und Lebensrealitäten wollten wir Raum zur Entfaltung geben. Unser Festival war in einer kleinen Identitätskrise. Wir fragten uns, in welche Richtung sich das Festival thematisch entwickeln soll und wie umfangreich wir das Thema Bildung allgemein und Freilernen im Speziellen zukünftig thematisieren wollen. Diese Überlegungen führten uns damals zu der Entscheidung gegen eine Unterzeichnung der Erklärung. Stattdessen haben wir mit gesellschaftspolitischen Themen experimentiert, unser Kulturprogramm ausgebaut, deutliche Positionierungen zur Schulpflicht vermieden und auch unseren Festival-Namen zu Septré geändert. Mit dieser Entwicklung fühlen wir uns nach wie vor sehr wohl. 

Seit 2021 ist uns aber eine deutlich sichtbare Positionierung gegen demokratie- und menschenfeindliche Tendenzen immer wichtiger geworden und eine erste Version des Code of Conducts entstand, die wir in diesem Jahr noch einmal angepasst und verständlicher formuliert haben. Zugleich sind wir zu dem Schluss gelangt, dass die Unterzeichnung der Erklärung und unsere Ambivalenzen in Bezug auf schulfreie Bildung miteinander vereinbar sind. Schließlich wollen auch wir eine Debatte anstoßen, ungewöhnlichen Bildungswegen zu mehr Akzeptanz und Sichtbarkeit verhelfen sowie demokratische Bestrebungen in der alternativen Bildungsszene unterstützen und uns mit ihnen solidarisch zeigen. Wir wünschen uns für die Zukunft, dass auch ein (teilweise) schulfreier Bildungsweg ganz normal und alltäglichsein kann. Zugleich möchten wir aber auch auf Ambivalenzen aufmerksam machen: weder ein schulischer noch ein schulfreier Bildungsweg ist die weltbeste Option für jeden jungen Menschen. Deshalb finden wir es auch sehr begrüßenswert, dass die Erklärung „schulfreie Bildungswege [nicht als] Konkurrenz, sondern [als] eine Bereicherung für das Schulwesen“ betrachtet. Als Festival verstehen wir unsere Aufgabe nicht (mehr) darin, klare Antworten auf die Schulpflicht-Frage zu geben, weil wir dafür nicht die Expert*innen sind. Wir sind manchmal selbst unsicher, für was wir uns einsetzen sollten und wie eine gesetzliche Regelung aussehen könnte, denn Bildung ist so unglaublich individuell und Gesellschaft sehr komplex. Wir möchten uns Raum für neue Ideen und andere Sichweisen lassen und dabei unaufhörlich dazulernen. Wir können Möglichkeiten zeigen, zusammen nachdenken und Spaß haben. Und wir halten die Unterzeichnung für absolut vereinbar mit unseren Werten und Vorstellungen. 

Die vollständige Erklärung und die Möglichkeit, selbst zu unterzeichnen findet ihr unter: https://erklaerung-selbstbestimmte-bildung.de 

Anschließend an diese Überlegungen planen wir zwei Podien auf diesem Festival, eines zu den politischen Perspektiven für schulfreie Bildungswege sowie eines zum Umgang mit und Abgrenzung von verschwörungsideologischen und rechtsextremen Zusammenhängen in der alternativen Bildungsszene. Seid gespannt, in Kürze wird es auf unserer Homepage weitere Infos dazu geben. 

Herzliche Grüße

Tabea für das Septré-Festival

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